Seit Buteo Huang vor dreißig Jahren seinen ersten selbst gebastelten Drachen in die Luft gehen ließ, ist er von der Kunst des Drachenbauens fasziniert. Im Laufe der Jahre hat er mit immer komplexeren Gebilden aus dem Handwerk eine erstaunlich ästhetische Kunstform gemacht.
Schon lange vor der Erfindung der ersten bemannten Flugmaschinen trugen Drachen die menschliche Vorstellungskraft in den Himmel. Für die meisten Menschen ist Drachen steigen lassen auch in der heutigen modernen Zeit die einzige Betätigung, die man als Kontrolle eines Flugobjekts definieren kann. Manchen Leuten reicht es jedoch nicht, das majestätische Schweben eines Drachen am Himmel sozusagen aus zweiter Hand nur durch Zuschauen zu erleben, sondern sie wollen die Dinger selbst bauen. Zu diesen Menschen zählt auch Buteo Huang, der mit unbegrenzter Fantasie und einzigartiger Kunstfertigkeit völlig neue Drachenformen schuf.
Der studierte Architekt, heute als Innenausstatter tätig, hatte schon als Kind ein Faible für Drachen. Im Laufe der Jahre hat er über 200 mehr oder weniger komplizierte Drachen unterschiedlichster Art gebaut. Manche Drachen sind mehrere Meter lang und voller feiner Details, andere sind kleiner und zweidimensional. Ein Drachen sieht beispielsweise wie ein Dreifachdecker-Propellerflugzeug vom Typ "Roter Baron" aus dem Ersten Weltkrieg aus, ein weiterer besteht aus 120 Einzelteilen (jeweils mit der Flagge eines anderen Landes), die auseinandergenommen werden und auch als einzelne Drachen fliegen können.
Huangs Werke sind auf der ganzen Welt bekannt geworden. Im Juni vergangenen Jahres gewann er bei einem internationalen Drachenfest in den Niederlanden für eine Serie von Drachen den ersten Preis. Kurz davor war der Künstler eingeladen worden, in Spanien eine Ausstellung zu veranstalten, und im November 2002, als das staatliche Geschichtsmuseum in Taiwan ausgewählte Werke von Henri Matisse (1869-1954) ausstellte, empfing Huang eine Gruppe von Gästen aus Frankreich in seinem Haus und Atelier in der Gemeinde Sanhsia, Landkreis Taipeh. Unter den Gästen war auch Jacqueline Matisse, Künstlerin und Enkelin des berühmten Fauvisten, die höchst angetan war von dem Drachen mit dem Titel Mirós Katze, den Huang acht Jahre zuvor gebaut hatte. Ein Gemälde des spanischen Malers Joan Miró (1893-1983) hatte Huang zu dem Stück inspiriert. Jacqueline Matisse lobte Huang für seine Fähigkeit, den Geist der Katze in Mirós Bild einzufangen, und heute gehört die Drachenkatze ihr.
Bei der Begegnung willigte Huang ein, Mirós Katze als Massenware zu produzieren und rechtzeitig für die zwei Jahre später geplante Miró-Ausstellung im staatlichen Museum für moderne Kunst in Frankreich zu liefern. "Vor der Begegnung wussten jahrelang nur wenige Menschen, wo diese Katze herkam", lacht Huang. "Das ist nur eines der Wunder und erinnerungswürdigen Überraschungen, die ich in der Drachenwelt erlebt habe." Bei der Erkundung dieser Drachenwelt entwickelte er dieses traditionelle Kunsthandwerk zu einer einzigartigen Kunstform weiter.

Bild rechts außen: Kanu auf dem Trockenen. Viele Drachenenthusiasten pilgern zu Huangs Wohnung und Atelier, um seine Kreationen aus der Nähe zu bewundern. (Chang Su-ching)
Sense Chen, Dramaturg und Autor eines Buches über Drachen, richtete drei Mal das internationale Drachenfest im Landkreis Taipeh aus und lobt Huangs Tätigkeit als geniale Innovation eines alten Handwerks. "Dank seines Hintergrunds als Architekt kann Huang mit neuen Materialien und Designs zur Verbesserung der Struktur und Handhabung der Drachen experimentieren", beschreibt Chen. "Dadurch können Huangs Drachen noch wendiger emporsteigen. Noch wichtiger ist, dass sie sich dadurch schneller an veränderte Windverhältnisse anpassen können. Zudem wurden alle diese Fortschritte nicht ohne die Berücksichtigung des ästhetischen Aspekts erzielt."
Die Nuancen bei Huangs Arbeit sind das Ergebnis einer 30-jährigen Erfahrung bei der Drachenherstellung. Seinen ersten Drachen bastelte Huang im Alter von 10 Jahren mit Materialien, die er sich im elterlichen Haus zusammengeklaut hatte: Bambusstäbe und Papierbögen aus einem Kalender. Dieser diamantförmige Drachen unterschied sich im Prinzip nicht im Geringsten von den einfachen Drachen, wie sie Kinder überall zusammenbauen, doch als Huang die Konstruktion in den Himmel steigen sah, war er von den Möglichkeiten für zukünftige Kreationen wie elektrisiert. "Die Freude über den Flug meiner Bastelei war anders als alles, was ich bisher erlebt hatte", schwört Huang. "Nach dem ersten Versuch dachte ich, 'wenn ein flacher, einfach konstruierter Drachen vom Wind in der Luft gehalten werden kann, würde das dann auch bei Drachen mit anderen Formen oder Dimensionen klappen?'"
Seine Neugierde führte ihn zu einem vollkommen logisch erscheinenden Experiment: Wenn Vögel fliegen können, dann sollte es ein wie ein Vogel geformter Drachen auch können. Zielstrebig stiefelte der Junge allein in den Zoo zum Beobachten und Zeichnen von Vögeln. So entstanden über zehn wie Vögel geformte Drachen, doch nur einer von ihnen erhob sich jemals in die Lüfte, und nach nur wenigen Augenblicken bereitete ein Regenschauer diesem Flug ein jähes Ende. Doch Huang gab nicht auf. Bis heute hat er über 8000 Vogelarten studiert und dabei ihren Aufbau, Flügelmuster und Farben untersucht, und um ihre Flugfertigkeiten besser verstehen zu lernen, fertigte er sogar Modelle der Vögel an.
Huangs Leidenschaft für Drachen hielt auch nach seiner Immatrikulation an der Architekturabteilung der Tamkang University an. Für sein Abschlussprojekt entwarf er ein Drachenmuseum -- ein Traum, den er bis dato noch nicht verwirklichen konnte. Während viele Menschen Drachen nur als Spielzeug betrachten, sieht Huang sie als "eine interessante Komposition aus Wissenschaft, Handwerk und Kunst".
Der wissenschaftliche Aspekt betrifft dabei vor allem das Studium der Hydrodynamik. Der Effekt eines im Winde aufsteigenden Drachen ist das Ergebnis einer ausbalancierten Interaktion von Gewicht des Drachen, Windstärke und Zugkraft der Person, welche die straffe Aufrollleine festhält. Diese Interaktion beschrieb Huang in seinem Buch Flügel eines Traumes als Spiel zwischen Mensch und Natur. Und weil die Idee von einem Handwerk normalerweise bei ihrer Präsentation auch Kunst ins Spiel bringt, geht Huang in der Interpretation des Handwerks noch einen Schritt weiter und versieht seine Arbeiten mit einem modernen Geist und kulturellen Elementen. "Wenn wir uns den Himmel als eine Leinwand vorstellen, können Drachen genauso wie moderne Kunst angewandt werden", vergleicht er.
Eines seiner Werke mit dem Titel Die E-Generation ist beispielhaft für seine avantgardistischen Kreationen. Der Korpus besteht aus Müllbeuteln, die mit Zwirn umwickelt und in die auf beiden Seiten Löcher verschiedener Größe geschnitten wurden. Als eine Arbeit von Konzeptkunst soll dieses Werk die dunkle Seite des Internet symbolisieren -- das komplizierte Netz birgt zahlreiche Fallen und Versuchungen. Ein weiteres experimentelles Stück, Drachenfossil, verwendet transparente Materialien, dank derer der Drachen in der Luft als ein abstraktes Skelett erscheint.
Als Huang mehr Gelegenheiten zum Ausstellen seiner Arbeiten im Ausland erhielt, begann er sich auch nach Bildern umzuschauen, die Taiwan am besten repräsentieren. Sein neuestes Werk mit dem Titel Kanu des Tao-Volkes (4,6 Meter lang, 2,53 Meter breit und 1,85 Meter hoch) hatte als Vorläufer einen kleineren Drachen. Vorbild sind die Bilder und Motive der traditionellen Kanus, die von den Yami-Ureinwohnern (auch Tao-Volk genannt) auf der Orchideeninsel Lanyu蘭嶼 hergestellt werden. Damit dieser Kanu-Drachen auch leicht zu transportieren ist, entwarf Huang ihn mit großer Sorgfalt so, dass er nach dem Auseinandernehmen und Zusammenfalten in eine kleine Schachtel passt. Nach der Vorarbeit der Konzipierung und Gestaltung des Entwurfs arbeitete Huang 120 Tage an der Konstruierung des gigantischen Fluggeräts. Die Muster wurden mit unterschiedlichen Farbsorten in fünf Schichten auf das wasserfeste Material gemalt, was allein schon einen Monat dauerte. Für die Materialien gab Huang 100 000 NT$ (2630 Euro) aus, und das war im Vergleich zu anderen Arbeiten von ihm noch relativ wenig -- die Materialkosten für Der Blaue Drache beispielsweise verschlangen fast 600 000 NT$ (15 790 Euro), und fünf Leute waren ein halbes Jahr mit der Arbeit daran beschäftigt.
Laut Huang ist der schwierigste Teil der Drachenherstellung die Schaffung eines praktikablen Designs. Zwar sind manche Entwürfe überaus kompliziert, doch der Drachen soll einfach zu starten, zu landen und zu steuern sein, und man soll ihn leicht demontieren können. Für ein großdimensionales Objekt wie das Kanu braucht man zuweilen zwei Monate oder mehr, um einen durchführbaren Bauplan zu ersinnen und zu perfektionieren, vorausgesetzt, alle benötigten Materialien sind verfügbar.
Und was, wenn eine solche Investition aus Zeit, Mühe und Geld einen Drachen gebiert, der nicht fliegen kann? Diese Frage wurde Huang schon viele Male gestellt, und nach seinen Worten droht die Gefahr des Scheiterns immer, selbst für jemanden mit seiner Erfahrung. Huang meint nicht nur den finanziellen Faktor, wenn er erklärt, er könne sich nicht leisten, mehr als ein großes Objekt im Jahr zu machen. "Mit Erfahrung kann man die Gefahr eines Scheiterns reduzieren, aber nicht komplett eliminieren", doziert er. "Aber irgendwie macht es ja auch Spaß, Risiken einzugehen, oder? Wenn ich etwas sehe, das mich interessiert, dann ist mein erster Gedanke immer, 'kann ich das zum Fliegen bringen?' Ich schaffe es nicht immer, aber jedes Mal, wenn es nicht klappt, erziele ich auch Durchbrüche, und diese tragen mich weiter und weiter. Ich sage meinen Schülern oft, dass es bei dem Spiel, das ich heute spiele, um viel höhere Einsätze geht als damals, als ich damit anfing."
Das Spiel ist noch lange nicht aus. Solange der Mensch selbst nicht fliegen kann, wird er nach Huangs Meinung weiter vom Fliegen träumen. "Und da ich nie absolut sicher sein kann, dass jeder Drachen von mir ein Erfolg wird, wüsste ich nicht, warum ich damit aufhören sollte. Doch das ist nicht alles. Das Beste beim Herstellen von Drachen ist, dass man alles Gelernte und alle Lebenserfahrungen zur Herstellung von etwas Originellem einbringen kann, und zwar in einer Weise, die unserer gewöhnlichen Wahrnehmung von Objekten widerspricht."
(Deutsch von Tilman Aretz)